Gedankenexperiment: Hatespeech-Simulator

Ich weiß nicht, wie es euch damit geht, aber ich habe ein großes Problem mit Hatespeech. Ich spiele ganz gerne MOBAs (Mobile Battle Arena) und habe auch mal den Fehler gemacht, Leguage of Legends zu spielen. Ich dachte immer schon, dass in Foren stellenweise zu unsachlich diskutiert wurde, aber dort war die Wut völlig entgrenzt. Schon bei den kleinsten Fehlern oder auch nur, weil die Leute gestorben sind und die Schuld auf jemanden anderen abwälzen wollten, kamen da derbste Beleidigungen. Der Höhepunkt war, als ich einen weiblichen Charakter gespielt habe und in einem Spiel gegen Bots, bei dem es um nichts ging, mir anhören musste: „Du unfähige Judenschlampe bist in deiner Kindheit wohl nicht hart genug vergewaltigt wurden.“
Das war dann der Moment, als ich mit LOL aufgehört habe. Ich konnte mir nie erklären, wie sich Menschen wegen eines Spiels so aufregen konnten, um sowas Bösartiges zu schreiben. Von daher hielt ich es für höchstspannend, als dann das ARD, die immer stärker Opfer solcher Hatespeeches werden, die Aktion: „Sag es mir ins Gesicht.“ gestartet haben (auch über youtube vollständig einsehbar). Ich hielt es für sehr mutig, sich mit all den Vorurteilen, der Wut und eben vielleicht auch der berechtigten Kritik von Angesicht zu Angesicht zu konfrontieren. Doch leider habe ich dabei immer noch nicht verstanden, welche Prozesse da ablaufen. Deswegen habe ich mich dazu entschieden, mal ein eigenes Experiment zu machen, ein Gedankenexperiment. Ich will versuchen, mir ein Modell zu bauen, mit der man Hatespeech erklären könnte, aber ich will es im Sinne der Spieltheorie als ein parodistisches Computerspiel aufbauen. Das kann natürlich komplett nach hinten losgehen, aber dafür ist das hier ein Blog, in dem man sich austesten kann. Ich hoffe, dass der eine oder andere von euch, sich mit Kommentaren oder Meinungen an der Spielentwicklung beteiligt. Denn solche Experimente machen vor allem in der Kooperation Spaß. Also fangen wir an.

 

Das Grundkonzept

Ich habe die Vermutung, dass Hatespeech durch enthemmte Wut möglich wird und sie vor allem im Privaten stattfindet. Das heißt:

  1. Spielumgebung ist das Wohnzimmer und ein Wutbalken, der die momentane Emotionalisierung der Person darstellt.

Ziel des Spiels ist es, mit so wenig Wut wie möglich, durch den Tag zu kommen. Denn wer von uns will schon wütend ins Bett? Das heißt, unser Protagonist klickt sich ganz unkontrolliert durch Internetseiten und wird dabei von verschiedenen Impulsen affiziert. Dadurch kann sein Wutbalken unterschiedlich stark steigen und um den wieder zu senken, gilt es zu posten. Die Grundmechanik ist also:

  1. Den Wutbalken über Kommentare vor Ende des Tages möglichst weit unten zu halten.

Dabei ist zu beachten, dass desto höher der Wutbalken beim Kommentieren ist, desto schlimmere Antwortmöglichkeiten zur Verfügung stehen. Desto krasser die Endaussage ist, desto stärker geht der Balken runter. Ich könnte mir das so vorstellen:

  1. Keine Steigung: Neutrale Kommentare, eventuell Ironie
    Niedrig: Anpöbeln, eigene Erfahrungsberichte überbewerten, Pauschalisierungen
    Mittel: Nazi-Keule, schwere Beleidigungen
    Hoch: Todesdrohungen, Vergewaltigungsphantasien

 

Das heißt, ich als Spieler bin auch immer motiviert, das Derbste zu schreiben, auch wenn ich die Wut vielleicht sogar schon von wo anders mitgebracht habe. Ich will ja möglichst effizient meinen Wutbalken abbauen und den Überbietungswettbewerb an Beleidigungen im Netz drückt das, denke ich, ganz gut aus.

 

Charakterwahl

Jetzt kommen wir zum eigentlichen, inhaltlichen Kern. Die Charaktere stehen für die Begründungsklassen oder die Motivationen von unterschiedlichen Typen von Menschen. Hierbei geht es darum zu überlegen, was eine Person dazu bringt, sich ihrer Wut in Form so eines schlimmen Kommentares zu entledigen. Ich kann mir dabei folgende Klassen vorstellen:

  1. Mittelständer – hier existiert ein wahrer Grund, wie die Angst von Überfremdung, die aus Hilf- oder Orientierungslosigkeit zu Wut, wenn nicht sogar zu Hass, führt. Die Welt ist zu komplex, um sie noch mit einem einfachen Weltbild verständlich zu erklären. Deswegen wird sie auf allgemeine und auch monoperspektivische Erklärungen heruntergebrochen. Alles was diese Ansicht differenzierter macht oder nicht der eigenen Kritik entspricht, wird abgelehnt. Gerade Nachrichten und Berichte füllen die Wutanzeige, denn der Glaube an die Wahrheit der eigenen Meinung, man sieht es ja ständig im Alltag oder hat Berufserfahrung, ist ungebrochen. Das ist die persönliche Objektivität, von der nichts abweichen darf, ohne heuchlerisch, propagandistisch oder einseitig zu sein.

 

Verschwörungstheoretiker – alle anderen sind blind oder dumm oder beides und werden kontrolliert, ohne es zu bemerken. Die wichtigsten Wahrheiten sind nur einem selbst und den dubiosesten Quellen und inneren Zirkeln bekannt. Man hat, aus seiner altruistischen Lebensauffassung, die Mission, die Menschheit vor ihrer Blindheit zu warnen und sie auf die tausend winzigen Zeichen aufmerksam zu machen, die sie sonst übersehen würden. Sie können sich wirklich glücklich schätzen, dass es da noch einen unabhängigen Geist gibt, der es einfach besser weiß und sich alles mit seinen Theorien erklären kann.
Der Charakter wird zufällig unterschiedlich stark affiziert. In einer Küchenwerbung kann er plötzlich das Zeichen der Illuminaten entdecken oder in einem kunstvollen Gemälde Ley-Linien. Er kann den ganzen Tag gemütlich über die Runden kommen, weil er ja auch weiß, was wirklich in der Welt passiert und dazu keine offiziellen Nachrichten benötigt, hat aber Beschränkungen bei seinen Kommentaren. Denn wenn ihn etwas wütend macht, dann dass andere Leute die grundlegenden Verschwörungen dieser Welt nicht verstehen. Deswegen muss er ihnen zuerst immer ihr Weltbild absprechen, dann eine x-beliebige Theorie, mit der keiner außer er selbst was anfangen kann, einsetzen und dann scharf Eliten kritisieren oder die Weltherrschaftsmechanik offenbaren.

 

Gamer -Wut baut sich nur auf, wenn man im Spiel irgendeinen Nachteil erleidet, dann ist der Balken aber sofort um mindestens die Hälfte gefüllt. Inhaltliche Verknüpfungen können vollständig ignoriert werden. Es sind immer alle anderen Schuld, selbst wenn man 1 vs 5 in eine feindliche Heldengruppen feeden geht. Der Gamer muss zwingend immer das derbste schreiben, wozu er fähig ist. Etwas anderes haben seine inkompetenten Mitspieler, die der einzige Grund für seinen Nachteil (oder Gott bewahre seine Niederlage) sind, nicht verdient. Das muss ihnen mit hunderten Pings und einen Vielfachen an Beleidigungen auch klargemacht werden, sonst begreifen die das nämlich nicht. Das alle danach gemeldet und geblockt werden, ist eine reine Selbstverständlichkeit. Ein Ragequit dient da nur der Psychohygiene und ist nicht zu verurteilen. Das nächste Mal dann doch lieber mit Cheats.

 

Elite – alles was einem nicht passt, sind Fake-News, außer die eigenen Fake News, das sind alternative Fakten. Der Charakter wird nur wütend, wenn seine Machtinteressen berührt werden, der Rest ist ihm ziemlich egal. Er lässt sich auch nicht auf normale Kommentare herab. Jeder Kommentar darf höchstens 140 Twitterzeichen lang sein und muss der Legitimierung oder dem Schutz der eigenen Interessen dienen.

 

Troll – er will vor allem über sich und Folgeposts zu seiner Provokation lachen. Als einziger Charakter besitzt er keinen Wutbalken. Nur die Wutbalken der anderen sind für ihn relevant. Desto mehr Fremdwut er generiert, desto zufriedener kann er schlafen gehen. Der eigent sich nur als Multiplayer-Charakter.

 

Ich bin mir sicher, es gibt noch viel mehr Charakterklassen, die im Hatespeech-Simulator spielbar wären. Vielleicht fällt euch dazu ja noch was ein.

 

Kleines Fazit
Um vielleicht doch nochmal etwas ernster zu werden, will ich hier kurz zusammenfassen. Während ich getippt habe, habe ich überlegt, was eben jene Kategorien von Menschen dazu bringt, böse Kommentare zu schreiben. Klar, oft ist es die schützende Anonymität, das Fehlen von Strafen, dass einen da Hemmungen nimmt. Die ARD meinte (da sogar unter Klarnamen gepostet wurde): es ist psychologisch gesehen so, dass man den Gegenüber nicht in die Augen sieht, nicht bemerkt, was die eigenen Worte anrichten, nicht den Menschen dort erkennt, was das Wegfallen der Hemmungen befördert. Die Wut scheint immer nahezu willkürlich ausgelöst zu werden, meistens, wenn etwas gegen die eigene Meinung spricht oder die Person einen Nachteil erleidet.
Das ist vielleicht ein wichtiger Punkt. Es fehlt die Geduld und Toleranz, sich auch auf die eigenen Fehler oder das eigene Unwissen einzulassen. Anstatt den anderen zuzuhören, den Wert seiner Worte oder Taten objektiv zu prüfen, wird sofort dichtgemacht und dagegen geschossen. Wer nimmt sich denn in Kommentaren noch zurück, atmetet einmal tief durch und überlegt sich dann eine deeskalierende Antwort? Unsere Zeit am Tag ist nicht weniger geworden, aber die Geschwindigkeit, mit der wir Dinge tun hat sich deutlich erhöht. Das Internet ist die Superlative einer sozialen Beschleunigung. Viele warten eben nicht, versuchen nicht zu verstehen, sondern transformieren ihre impulshafte Wut sofort in einem Kommentar. Das zumindest kommt bei mir am Ende des Gedankenexperimentes an. Ich weiß nicht, ob das stimmt, aber so könnte ich die vielen verschiedenen Aufreger und die immer gleiche Form des Postens unter einen Hut bringen. Was meint ihr dazu? Ihr könnt gerne eure Kritik und Anregungen auch als Spielelemente tippen. Vielleicht haben wir am Ende wirklich ein witziges Konzept, dass man mal Entwicklern vorstellen kann 😀

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht.

Diese Website verwendet Akismet, um Spam zu reduzieren. Erfahre mehr darüber, wie deine Kommentardaten verarbeitet werden.