Improvisiertes Spiel – Bequemlichkeitsfalle oder echte Alternative?

Zuerst will ich mich für das bisherige Feedback bedanken. Ich konnte daraus schon einige wertvolle Rückschlüsse ziehen und das Buch überarbeiten. Ich werde von Zeit zu Zeit auch immer wieder die aktuellste Version im entsprechenden Artikel (Sternenkinder – Ultima Era) hochladen. Das heutige Thema hat auch einen direkten Bezug zum Buch. Ich bin normalerweise eine Spielleitung, die akribisch alles vorbereitet, sich überlegt, wie die Spieler am wahrscheinlichsten handeln würden und jede Szene mit Material, Musik und Sprache als Komposition plant. Mein Rollenspielbuch hat allerdings einen gegenteiligen Ansatz. Es kann eine Sandbox simulieren, in der alles auf Improvisation und Zufallstabellen fußt. Um diesen essentiellen Teil vollständig testen zu können, habe ich mich daher für eine Spielsitzung von jeder Vorbereitung befreit. Am Ende muss das Buch genau das leisten können: ohne Vorbereitung, ohne Abenteuer trotzdem normal spielen zu können. Ich will von diesem Erlebnis berichten und bin schon gespannt, ob ihr ähnliches erlebt habt.

Ausgewürfelte Geschichte

Beginnen wir mit der Ausgangslage. Es war toll, nichts vorbereiten zu müssen, sondern sich einfach an den Tisch zu setzen und loszulegen. Am Anfang war ich ziemlich aufgeregt und dachte mir: was machst du da eigentlich? Die ganze Spielsitzung kann an die Wand fahren, wenn die Regelmechanismen nicht greifen, ich Inkonsistenzen in der Geschichte erschaffe oder die Spielzeit nicht gleichmäßig verteilen kann. Selbst wenn das alles funktioniert, wird immer noch kein spannendes Erlebnis garantiert.“
Ich hielt mich daher sehr eng ans Regelwerk. Das hieß, es werden zuerst 3 Nachrichten ausgewürfelt, die die Welt für die Spielsitzung und eventuell darüber hinaus verändern. Dabei habe ich bereits die erste, interessante Beobachtung gemacht.
In der ersten Nachricht bewegte sich eine Handelskarawane aus Frachtschiffen durch verschiedene Systeme. Da sie aber entgegengesetzt der Route flog, die die Spieler nehmen wollten, war die Nachricht für sie irrelevant. Es gab später zwar noch eine kleine Szene, in der sie die Karawane passiert und Handel betrieben haben, aber das war nicht sehr spielbereichernd. Also dachte ich, Nachrichten müssen eine Beziehung zur Gruppe haben, ansonsten scheinen sie überflüssig.
Dann würfelte ich die zweite Mitteilung der Tagesthemen aus. Eine neue, religiöse Sekte hatte sich gegründet und niemand wusste, wie man sie einschätzen sollte. Sofort wurde am Spieltisch diskutiert, wer wohl für Informationen über diese Sekte bezahlen würde und wie man sie infiltrieren würde. Das war eigentlich auch eine Nachricht, von der ich annahm, dass sie keine Bedeutung haben würde, die aber die Spieler direkt zu einem Abenteuer motiviert hat.
Bei der dritten Nachricht hatte ich dann etwas Glück gehabt. Dort fand eine Polizeirazzia in dem System statt, in dem sie einen Spielabend zuvor ein krummes Ding durchgezogen haben. Da war die Verbindung perfekt. Alle anderen Pläne wurden von den Spielern auf einmal verworfen und die Köpfe wurden umgehend zusammengesteckt, welche Beweise man hinterlassen hat und wie man einer möglichen Identifikation entkommen könnte. Der folgende Spielabend drehte sich dann genau darum: Beweise vernichten, Beamte schmieren und einen Sündenbock finden. Da alles auf Zufall und der eigenen ECHTEN spielerischen Freiheit beruhte, fühlte sich der Prozess und das darauffolgende Abenteuer sehr natürlich an. Die eigene Rolle in der Welt wurde stärker reflektiert. Denn ohne Schienen geschahen vor allem Dinge in Reaktion auf die eigenen Handlungen. Das heißt Improvisation und echte Freiheit führten zu einer Steigerung der Authentizität der Welt. Es gab in der Erzählung nur Entscheidungen und Konsequenzen.
Das war die zweite Lehre, die ich aus dem Abend gezogen habe. Damit die Zufallsereignisse in ihrer Bedeutung verstärkt werden, müssen die Konsequenzen jederzeit glaubhaft und spürbar sein. Das kann wiederum zu neuen, damit verknüpften Ereignissen führen, die dynamisch eine eigene Geschichte erschaffen. Ein Beispiel:
Die Gruppe erhält den Auftrag von einem Piratenklan Informationen an einen bestimmten Ort zu bringen. Sie wollen nun die Information an einen Agenten (NSC eines Spielers) der Polizei verkaufen und deren Signal so lange stören, bis sie die Informationen an den Ort gebracht haben, um doppelt zu kassieren. Blöderweise fragen sie aber genau die Piraten, sie dabei zu unterstützen. Die Piraten sagen zu, verfolgen das Signal der Spieler und warten, bis sie es stören sollen. Als der Moment da ist, greifen sie in die Szene ein, schnappen sich den Agenten und verschwinden in ihr Territorium. Der Spieler (dessen NSC das war) plant darauf eine Befreiungsaktion, für deren Gelingen er aber Verbündete benötigt. So hat er seitdem eine persönliche Quest.
Am Ende war ich richtig erstaunt, wie viel Geschichte von selbst entsteht, wenn man schlicht Zufallstabellen nutzt und die Ereignisse einfach weiterspinnt. Eher früher als später kann man als Spielleitung die Zufallsereignisse mit der aktuellen Situation der Gruppe verweben. Daraus entstand, zumindest bei mir, eine ungeahnte Dynamik, die den ganzen Abend gefüllt hat. Also ja, durch Improvisation und Zufallsereignisse können gute Geschichten entstehen.

 

Ausgewürfelte Spielinhalte

Bei der Geschichte hat das mit der Improvisation geklappt. Doch wie sieht es mit Spielinhalten aus? Kann man stetig spannende und abwechslungsreiche Spielmechanismen improvisieren?
Tatsächlich war das im Erschaffungsprozess des Buches einer meiner Hauptfragen. Eine Sandbox funktioniert nur, wenn sie auch genug zum Spielen bietet und der Game loop, also die sich wiederholenden Kernmechanik des Spiels, sich nicht zu schnell abnutzt. Deshalb habe ich verschiedene Arten Spiel zu betreiben in die Sandbox eingebaut. Jedes Sternensystem besitzt zuerst ein Angebot und eine Nachfrage bestimmter Handelsgüter, besondere Ausbilder und Ereignisse. Dazu kann jeder Charakter sogenanntes Freizeitspiel betreiben, was vom Asteroidenabbau, der Tierjagd bis zu journalistischen Tätigkeiten reicht. Das sind Nebentätigkeiten, die schon einiges an Zeit ausmachen können und durch ihre kreativen Herausforderungen (eigene Forschungsmethoden finden, Artikel schreiben, Szenen abdrehen etc.) auch nicht so schnell langweilig werden. Zusätzlich geschieht in jedem System, abhängig von der Gefahrenstufe, Besonderheiten und Lage des Systems 1 von 120 Ereignissen. Diese Ereignisse sind sehr wichtig, da sich dadurch die Reise in die Systeme nicht nur wie eine Haltestelle in der Bahn anfühlen, sondern Routenplanungs- und spielrelevant werden. Wer durch Piratengebiet fliegt, muss deutlich vorsichtiger vorgehen, als bei friedlichem Raum. Auch wenn es nur kurze Szenen sind, geben sie der Reise selbst Bedeutung und da die Varianz so groß ist, herrscht Neugier bei den Spielern vor. Selbst negative Ereignisse konnten ein spannendes Spiel erzeugen.
Der neue Schmuggler in der Gruppe hatte zum Beispiel einen Container voller Töpfe, unter denen er Edelmetallbarren vor der Gruppe versteckte. Auf einmal würfle ich aber eine Polizeikontrolle aus. Die entdecken das Gold und wundern sich, dass es auf der Frachtliste nicht erscheint. Nun ist Gold kein Schmuggelgut und der Kapitän sollte sich erklären, warum es versteckt war. Der von dem Fund ebenso überraschte Spieler denkt sich eine Ausrede aus, die Polizei verlässt das Schiff. Danach gab es innerhalb der Gruppe eine schöne und lange Spielszene, in der der Schmuggler einen Deal für sich und das Gold ausgehandelt hat. Ich habe dadurch festgestellt, dass selbst solche kleinen Ereignisse das Potenzial zu viel Spielspaß bereithalten. Der betroffene Spieler hat mir das auch nicht böse genommen, auch wenn er sich geärgert hat. Grund dafür war, dass die Würfel entschieden hatten. Der Zufall ist ein unabhängiger und unbestechlicher Richter, dessen Urteil akzeptiert wird.
Zusammengefasst gab also bereits durch die Möglichkeiten der Sandbox genug Inhalte, um einen vergnüglichen Abend zu haben. Da es Nebentätigkeiten und kleinere Ereignisse waren, war es gar nicht notwendig, viel zu improvisieren. Das meiste habe ich ausgewürfelt und abgelesen.
Das Fleisch des Abenteuers sind aber die Aufträge, die in jedem System angenommen werden können. Das ist der Punkt, an dem Improvisation wieder wichtig wird und der den Hauptanteil am Abenteuer einnimmt. Hinter den Aufträgen steht ein ganzes Kapitel voller Abenteuerideen, die die Spielmechaniken und Herausforderungen auflisten. Das heißt, es werden je nach System verschiedene Aufträge mit unterschiedlichem Schwierigkeitsgrad ausgewürfelt von denen aber nur die Spielmechanik und die grobe Spielidee bekannt ist. Alles Weitere muss die Spielleitung machen. Das ist ein kritischer Punkt. Um den Auftrag spielbar zu machen benötigt die Spielleitung nämlich eine Vorstellung der gegenwärtigen Welt, auf der sich die Gruppe befindet. Nur anhand dieser Vorstellung kann sie die Parameter des Auftrages in die Welt einbinden, sie erlebbar machen und letztendlich das Abenteuer führen.
In meinen Fall hatte ich Glück. Meine Spieler hatten sich dafür entschieden, Banditen auf einer archaischen Wikingerwelt umzubringen. Das ist ein Klassiker und bedarf keines großen Improvisationsgeschickes. Es gab aber auch noch andere Aufträge, wie zum Beispiel einen fahrenden Händler über die eisige und gefährliche Welt zu begleiten oder einen Streit zwischen politischen Fraktionen, hier Sippen, zu schlichten. Ehrlich gesagt weiß ich nicht, ob ich bei komplexeren Inhalten genauso gut improvisieren könnte. Zwar stellt das Auftragskapitel einige Hilfen zur Seite, am Ende muss man sich dann aber doch in eine komplizierte Situation hineindenken, sich überlegen, welchen Verlauf sie nehmen wird und welche Reaktionen es auf die Spielerhandlungen geben wird.
Kurz gesagt: einfache, kurzzeitige Spielinhalte nur über Improvisation zu erschaffen funktioniert recht gut. Diese besitzen das Potenzial sich dynamisch zu Szenenketten zu entwickeln aber zumindest für eine kurze Zeit Spaß zu machen. Komplexe Inhalte jedoch sind deutlich schwieriger zu improvisieren. Man hat als Spielleitung schlicht keine Zeit sich größere Zusammenhänge auszudenken und sie glaubhaft zu vermitteln. Es ist sicherlich möglich, erfordert aber Geschick und meiner Meinung nach auch Glück. Ich würde daher eher davon abraten.

Schlussendlich war es aber eine wertvolle und erfrischende Erfahrung mal eine komplette Spielsitzung zu improvisieren. Der Arbeitsaufwand ist minimal und es ist zumindest im kleinen Rahmen möglich gute Geschichten sowie Inhalte zu generieren. Das hat sogar mit Improvisation besser geklappt, als mit Vorbereitung. Wobei ich das relativieren muss, da ich auch einen Haufen Werkzeuge zur Verfügung hatte. In einem anderen System, ohne diese Werkzeuge, würde ich mir das wohl nicht zutrauen. Aber vielleicht kann man festhalten, dass für ein schnelles Ereignis zwischendurch, die Gestaltung einer Reise oder für kleinere Inhalte Improvisation ein gut geeignetes Mittel ist. Auch eine Zufallstabelle ist schnell erstellt und kann eine Spielrunde durch das Unvorhersehbare und seine dynamische Entwicklung erheblich aufwerten. Das war auf jeden Fall mein Eindruck zu meiner ersten improvisierten Runde. Vielleicht habt ihr ja ähnliche oder ganz andere Erfahrungen gemacht? Ich freue mich wie immer über eure Kommentare!

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