Im Beitrag über das Schummeln am Spieltisch wurde im Kommentarbereich angerissen, welche Bedeutung Wahrscheinlichkeiten und der Zufall im Allgemeinen im Rollenspiel haben können. Weil das Thema sehr umfassend ist, will ich ihm einen ganzen Beitrag widmen.
Die Bedeutung des Zufalls
Ich will mit einer kleinen Assoziationsfrage beginnen. Wenn man Rollenspiel bildhaft darstellen will, welches Motiv würde man wählen? Ich persönlich denke dabei immer an einen Würfel, aus DSA-Zeiten auch noch speziell an 1W20. Er ist für mich untrennbar mit dem Hobby verbunden und sticht als markantes Symbol heraus. Über die Faszination, die Würfel auf Rollenspieler ausüben, kann man sicherlich auch einen eigenen Beitrag schreiben. Sie sind nicht nur das Werkzeug des Rollenspielers, um überhaupt spielen zu können, sondern drücken ein elementares Prinzip aus: nämlich das des Zufalls.
Der Zufall erhebt das Rollenspiel vom Improvisationstheater zum Spiel. Alle Handlungen, die nicht selbstverständlich oder narrativ ausgeführt werden, müssen auf irgendeine Weise dargestellt werden. Da nun aber jeder Charakter bestimmte Stärken und Schwächen besitzt, müssen die Handlungen auch noch in Bezug zum Charakter abgebildet werden. Einen leichtfüßigen Dieb fällt das Schleichen deutlich einfacher als einem schwer gepanzerten Ritter. Das erschafft andere Grundwahrscheinlichkeiten, dennoch ist es für beide möglich zu schleichen – für den einen ist es nur leichter, als für den anderen. Solch ein Verhältnis lässt sich sehr gut mit einem Würfelwurf abbilden. Der Zufall als Regelmechanismus besitzt hierbei eine logisch-vereinheitlichende Funktion. Denn all die verschiedenen Umstände werden als Modifikationen auf seinem festen Wertesystem mit einbezogen. Er vereinfacht die komplexe Situation auf einen Wurf, den alle nachvollziehen können. Er lässt sich dabei nicht von der Narration beeinflussen, sondern steht als unabhängiges Schiedsgericht, als harter Fakt neben den Beschreibungen. Wenn überhaupt, dann müssen sich die nachfolgenden Beschreibungen an dem Ergebnis des Wurfes orientieren. Somit wird der schauspielerischen Ebene eine reine spielmechanische Ebene hinzugefügt.
Der Zufall nimmt im Spielaspekt dabei gleich mehrere, wichtige Rollen ein. Die erste Rolle ist eine strategische. Mit einer bestimmten Charakteraufbaustrategie kann der Zufall zum eigenen Vorteil beeinflusst werden. Die Spezialisierung der Charaktere auf bestimmte Arten der Spielweise macht ihm zum Zentrum eines strategischen Denkens. Dann ist er ist das spannungserzeugende Moment bei jedem Wurf, welches, je nach Wichtigkeit des Wurfs, umso intensiver wird. Da niemand das Ergebnis vorhersehen kann und selbst bei sicheren Würfen Fehlschläge oder bei unwahrscheinlichen Würfen Wunder geschehen, baut er Spannung auf. Damit ist eng verbunden, dass der Zufall den Faktor des Unvorhergesehenen darstellt. Durch die Unberechenbarkeit von Würfen können sich plötzlich neue Möglichkeiten in einer Szene eröffnen oder schließen, was Spieler dazu zwingt, kreativ zu werden.
Diese Funktionen kann der Zufall nur erfüllen, wenn er unangetastet und in voller Konsequenz richten kann. Damit muss sich sogar die Spielleitung dem Zufall beugen, was die Frage nach dem Schummeln überhaupt erst relevant werden lässt. Oder um es mit den Worten von Harvey Dent aus „The Dark Knight“ zu sagen: Zufall ist „Unparteiisch, Unvoreingenommen, Fair.“
Diese Eigenschaften erlangt er aber nicht von selbst. Wenn Regeln als unausbalanciert oder unfair wahrgenommen werden, ist der Weg nicht weit, eigene Hausregeln zu erschaffen. Der Zufall erlangt seine wichtigen Funktionen also erst durch ein faires Spielsystem, welches um ihn gebaut ist. Damit ist er der Hauptmotor für alle Arten von Regeln in klassischen Rollenspielen.
Spielen ohne Zufall?
Wenn der Zufall aber so wichtig ist, kann dann überhaupt ohne ihn gespielt werden? Es gibt einige Systeme, die ohne Würfel funktionieren. Ich selbst habe einmal ein Spiel namens Deadlands, wenn meine Erinnerung mich nicht trügt, gespielt. Darin gab es auch keinen Meister. Jeder Teilnehmer hat sich zu Beginn bestimmte Szenen aufgeschrieben, die er gerne spielen würde. Außerdem hat sich jeder zusätzlich zum Charakter noch 2 NSCs erstellt. Die Spieler konnten nun reihrum ihre Szenen einbauen und man hat zusammen geschaut, ob das Abenteuer noch stimmig war. Alles andere, was in dieser Szene passierte, wurde verbal durch den aktuellen Szenenerschaffer entschieden. Zwar konnten sich die Spieler mit Pokerchips in eine Szene einkaufen, um doch noch eine Wendung einzubauen, aber der Zufall war eliminiert.
Der Ansatz war definitiv interessant, aber die tatsächliche Runde war eine Katastrophe. Es saß ein Powergamer am Tisch, der seinen Charakter nur jeden, erdenklichen Vorteil erschaffen hat aber sonst keinen Beitrag zum Abenteuer geleistet hatte. Derjenige, der uns die Regeln erklärt hatte, ist bei der Sitzung eingeschlafen, hatte keinen Überblick mehr und erschuf ständig völlig unzusammenhängendes Zeug. Ein letzter nahm sich zurück, ließ sich bequatschen und hat dann mehr oder minder so die Szene gebaut, bis die anderen zufrieden waren.
Daran erkenne ich durchaus die Schwachstelle eines würfellosen Systems. Ohne eine eindeutige Beurteilungsinstanz muss anhand von Konsens entschieden werden. Da aber, zumindest in der von mir gespielten Runde, alle gleichberechtigt waren, wird die soziale Dominanz sehr wichtig. Derjenige, der sich in den Gesprächen durchsetzen kann, gestaltet am meisten. Ich glaube, so ein System funktioniert, wenn die Teilnehmer einander respektieren und auf das gemeinsame Abenteuer hin arbeiten. In dem Fall könnte es durchaus das klassische Rollenspiel in Gestaltungsmöglichkeiten übertreffen, da jeder seine Perspektive für die Szenen noch stärker zu Geltung bringen kann. Wenn dem aber nicht so ist, dann bedarf es eindeutiger Regeln.
Nun ist Rollenspiel keine Fußballpartie, in der man am Spieltisch eine sportliche Leistung erbringt, die über den Erfolg oder Misserfolg entscheidet. Die eigentliche Leistung des Spielers ist das Erzählen, die Lösungsfindung und das Abwägen. Er kann die Handlungen seines Charakters beschreiben, muss die Herausforderung der Szene meistern und für sich entscheiden, ob sich das Risiko für einige Aktionen lohnt. Ohne Zufall könnten Situation entstehen, in denen bestimmte Proben immer oder nie gelingen. Damit würde es kein Risiko, kein Abwägen und damit wichtige Teile des Spielspaßes nicht mehr geben. Also ja, man kann Rollenspiel ohne den Zufall betreiben, aber es wäre eine spezielle Form des Rollenspiels, die eher auf ein gemeinsames Erzählen als auf ein gemeinsames Abenteuer ausgelegt wäre.
Zufall in der Szenenerschaffung
Zufall erzeugt Spannung, er lässt Spieler bedeutungsvolle Entscheidungen abwägen und er kann mit seiner Unvorhersehbarkeit die Szene auf eine interessante Art beeinflussen. Vorher hatte ich Abenteuer immer akribisch geplant. Gegenwärtig teste ich aber mein eigenes System, welches Größtenteils auf Begegnungs- und Ereignistabellen sowie Auftragsgeneratoren setzt. Seitdem hat sich meine Vorbereitungszeit von 1 Woche auf 2 Stunden verkürzt. Im Grunde bewegt sich die Gruppe nur von A nach B aber dabei passiert so viel, dass das Rollenspiel füllend zwischen den eigentlichen Spielorten stattfindet. Wie kann das ohne tatsächliches Abenteuer funktionieren? Grundlegend ist festzuhalten, dass Spieler auf Inhalte unabhängig ihrer Verknüpfung mit der Geschichte reagieren. Es muss etwas geben, was sich für sie lohnt, bei dem sie Lust haben zu spielen, sich damit zu beschäftigen oder etwas, das sie bedroht. Dann sind sie motiviert, mit den Inhalten zu spielen. Wenn ein Spieler einfach Lust hat, einen klaren Sternenhimmel zu bewundern, dann kann das ausreichen, dass ein anderer dazu kommt und sie über die nichtige Bedeutung des Menschen im Vergleich zum Kosmos philosophieren. Sofern der Zufall nicht völlig an den Interessen der Spieler vorbei geht, kann er neue Spielsituationen erschaffen. Das wird vor allem dadurch reizvoll, weil die neue Situation von den Spielern selbst erschaffen wurde. Es fühlt sich gleich deutlich befriedigender an, wenn eine Szene durch das eigene Handeln entschieden mitgestaltet wird. An besonderer Würze gewinnt eine Szene, wenn sie nicht erdacht, sondern tatsächlich durch verschiedene Würfe entstanden ist. Gerade unwahrscheinliche Ergebnisse lassen eine Szene noch lange im Gedächtnis bleiben. Mit ein wenig Kreativität, die gebraucht wird, um das zufällige Ergebnis mit der Geschichte zu verbinden, kann sich so das Unplanbare als wertvolles Element in einem Abenteuer erweisen.
Zufall wird nur dann störend, wenn er das Spiel zunichte macht. Natürlich muss ein Charakter scheitern können. Das lässt die Spieler überhaupt erst mitfiebern. Wenn aber der Fehlschlag nicht zu einem neuen Spiel, einer interessanten Wendung oder einer neuen Herausforderung, sondern nur zum Tod führt, dann frustriert das. Die Gefahr muss präsent sein, aber sie darf meistens nicht eintreten. Eine Ausnahme ist, wenn der Tod perfekt in das Geschehen passt, alle ihn als würdig akzeptieren und so das Erlebte konserviert wird. Wenn das Abenteuer aber endet, weil irgendjemand einen Wurf nicht geschafft hat, dann kann das viel kaputt machen. Dabei muss es nicht mal um den Tod gehen. Es gibt, gerade in Kaufabenteuern, Schlüsselstellen, bei denen ein bestimmter Wurf verlangt wird. Das Abenteuer geht nicht weiter, bis dieser Wurf gelungen ist. Den Wurf ständig zu wiederholen, führt ihn ad absurdum. In solchen Situationen, und darauf beziehe ich mich auf den Kommentarbereich vom letzten Mal, lohnt es sich zu schummeln. Spielregeln haben das Ziel, dass das Spiel funktioniert und Spaß macht. In solchen Momenten hat aber niemand Spaß, das Spiel wird lediglich aufgehalten. Wenn die Umgehung des Zufalls durch das Schummeln nur in Einzelfällen bei besagten Momenten geschieht, wird sich das unangenehme Gefühl, dass die Situation konstruiert wurde, nicht einstellen.
Ich schließe also damit, dass der Zufall als Regelummantelte Entscheidungsinstanz von zentraler Bedeutung für das klassische Rollenspiel ist, solange er fair und nachvollziehbar bleibt. Allerdings kann er in seinen Funktionen ebenso Frust erzeugen, der nichts mit der tatsächlichen Spielleistung am Tisch zu tun haben muss und einfach nur auf Pech gründet. Deshalb sollte er, wie jede andere, spielstörende Regel, dann gebeugt werden, um Spiel und Spaß zu ermöglichen.
Es wird Dich sicher nicht überraschen, wenn ich vehement widerspreche. 😉
„Wenn aber der Fehlschlag nicht zu einem neuen Spiel, einer interessanten Wendung oder einer neuen Herausforderung, sondern nur zum Tod führt, dann frustriert das. Die Gefahr muss präsent sein, aber sie darf meistens nicht eintreten.“
Ein Fehlschlag führt immer zu neuem Spiel (oder einem neuen Charakter). Ein Charaktertod ist immer interessant, wenn auch auf frustrierende Weise. Tritt ein Charaktertod zu selten ein, ist die Gefahr auch nicht präsent.
Meine lebhaftesten Erinnerungen aus 25 Jahren Rollenspiel betreffen meist die Tode meiner Personnagen. Manche starben in dramatischen Kämpfen gegen „Endgegner“, andere gleich bei der allerersten Begegnung nach der Charaktererschaffung.
Oh Fortuna, grausame Göttin des W20, sei gepriesen!
Das spielleiterlose Westernspiel ist bestimmt nicht Deadlands (das kennt viele bunte Würfel, und Karten, und Pokerchips) sondern Western City von Jörg Dünne.
Guter Artikel – abgesehen vom letzten Absatz, wo ich ghoul Recht geben muss.
„Es gibt, gerade in Kaufabenteuern, Schlüsselstellen, bei denen ein bestimmter Wurf verlangt wird. Das Abenteuer geht nicht weiter, bis dieser Wurf gelungen ist.“
Sowas ist mMn schlechtes Abenteuer-Design. An der Stelle müssen nicht die Würfelregeln gebeugt werden, sondern hier muss deas Kaufabenteuer vorher abgeändert werden.
In anderen Worten: Zufall ist dann zu benutzen, wenn er sinnvoll ist. Wenn bestimmte Würfelergebnisse unpassend scheinen, absolut unerwünscht sind oder egal (weil es z.B. beliebig viele Versuche gibt und Scheitern keine echte Konsequenz hat), dann braucht man den Zufall auch nicht zu bemühen.
(Oder: Wenn der Tod einer Spielerpersonage in einer Kampfszene unerwünscht ist, dann kann man auch – für diese Szene – vorher vereinbaren, dass tödliche Konsequenzen in der Abwicklung in nicht-lethale zeitweilige oder dauerhafte Nachteile umgewandelt werden. Oder man benutzt Schicksalspunkte, die beim Ausgeben erlauben dem Tod nachtäglich doch noch von der Schippe zu springen. Es gibt viele Möglichkeiten. Nur: Sie sollten vorher klar sein … und eben nicht zurecht gebogen werden. Das fühlt sich nämlich wie Schummeln an [ist es ja auch] – und entwertet damit das Spielerlebnis. Schicksalspunkte finde ich wegen des Retcon-Effekts deswegen auch eher ungünstig. Wenn man es schafft ganz ohne Sicherheitsnetz zu spielen … hat das einen besonderen Reiz. Aber da muss man halt schauen, was in der Gruppe geht und was nicht.)