Über die kulturelle Synthese von Krassheit

Letztens sprach mich ein Spielleiter an, wie toll das Hexen-Spielsetting sei. Er erzählte vom Hintergrund des 30-jährigen Krieges und die historischen Verflechtungen im Spiel. Das verfing tatsächlich bei mir, da es sich um ein unverbrauchtes Szenario handelt, in den ich mir viele spannende und dramatische Situationen vorstellen kann. Doch dann begann er von den namensgebenden Hexen zu erzählen. Anstatt das jetzt subtile Paranoia, Massenhysterie und der Tod von Unschuldigen im Zentrum stand, wurden dem Setting einfach unfassbar mächtige Erzmagerinnen hinzugefügt. Die übernehmen per Gedankenkontrolle einfach Ritterorden oder beschwören mythische Monster, die ganze Landstriche mit einer einzigen Bewegung verwüsten. Plötzlich war der Hexen-Hintergrund für mich entzaubert und ich spürte nur wieder meine Abnutzungsmüdigkeit im Bereich der Fantasy. Es mag sicherlich auch eine Frage des Geschmacks sein, aber ich will in diesem Beitrag noch weitergehen. Ich vermute nämlich eine gesellschaftliche Prägung hinter dem Bedürfnis nach Krassheit.

Was ist krass?

Für mich ist der Begriff ein schrilles Wort, der überzogen eine Außergewöhnlichkeit bis hin zur an Lächerlichkeit grenzenden Übertriebenheit darstellt. Er ist zeitgleich aber auch eine Folge einer kulturellen Synthese. Ich sage das, ohne zu diesem Thema geforscht zu haben. Alle Thesen die ich hier aufstelle, sind also persönliche Meinung, aber ich habe die Hoffnung, dass sie zumindest pikant zur Diskussion anregen.

Wenn ich von kultureller Synthese spreche, versuche ich mir klarzumachen, worin überhaupt der Reiz des Krassen liegt. Wird aus heutiger Sicht auf Überzeichnung und Sonderstellung von Charakteren und Settings geschaut, ließe sich eventuell das Argument eines Eskapismus einbringen. Schließlich suchen wir ja Erholung und Abwechslung vom Alltäglichen. Wir umarmen das Krasse, weil es so viel anders und damit neu und spannender als unser Alltag ist. Dieser Punkt ist so weit auch verständlich, aber dieses andere, neue und spannende Erlebnis lässt sich auch mit nicht-krassen Charakteren und Settings erzeugen. Ich will hierbei an historisches Larp oder Rollenspielsysteme wie Privat Eye erinnern. Reiner Eskapismus scheint mir den Wunsch nach Krassheit nicht notwendig zu begründen.

Ich will daher deutlich früher in die Betrachtung einsteigen und da wird nun der Begriff der kulturellen Synthese relevant. In vielen Staaten Europas, maßgeblich in Deutschland, sprechen Kulturwissenschaftler davon, dass nach dem II. Weltkrieg das post-heroische Zeitalter folgte. Die Verbrechen, die Zerstörung und das massenhafte Leid führte zu einem kulturellen Umdenken. Statt Ehre und Ruhm im Kampf zu erringen, wurde das Militär kritisch bewertet und auf seine Notwendigkeit geprüft. Nicht mehr soldatische Werte, sondern Menschenrechte, Pazifismus traten in Zentrum öffentlicher Anerkennung. Das ist deswegen bezeichnend, weil in Verbindung mit Krassheit immer das Helden-Motiv gebracht wird. Ich nehme daher an, dass die kulturelle Entstehung eher ein Export von Ideen war, der sich dann mit heimischen Ideen vermischte. Auffällig ist dabei der Superheldenkult in den USA. Als Sieger der Weltkriege wurden die soldatischen und damit heroischen Werte, wie Tapferkeit, Schlagkraft, Aufopferung usw., eher betont als geschwächt. Sie üben als Weltmacht zudem, zumindest in Westeuropa, bis heute eine kulturelle Dominanz aus. Es ist damit nicht nur möglich, sondern auch wahrscheinlich, dass ihre Heldenidee nach Deutschland exportiert wurden. Doch was macht diese aus?

Kräfte gleich Helden

Für Helden ist Krassheit ein Kernmerkmal. Anders formuliert sind sie genau deswegen Helden. Da geht es weniger um ihre moralische Vollkommenheit (denn es gibt Helden in allen moralischen Geschmacksrichtungen) und nicht unbedingt um ihre Leistungen (die zumindest in den Comics zum Großteil immer wieder reseted werden oder keine größere Rolle spielen). Es geht bei ihrer Beurteilung stattdessen maßgeblich darum, ob sie stärker als andere Helden oder Schurken sind. Das mag ein relatives stärker sein, weil Charaktere ohne Schwächen langweilig sind und viele Kräfte nur in bestimmten Rahmen stärker sind als die Kräfte der anderen. Aber sie werden hauptsächlich über ihre Krassheit definiert. Ein Held oder Schurke erhält vor allem Aufmerksamkeit, weil ein Spektakel zu erwarten ist, wenn er seine Kräfte entfesselt. Dahinter kommen dann noch andere Layer, wie Charaktereigenschaften und Hintergrundgeschichte, aber seine Krassheit ist die erste Schicht, auf die das Publikum schaut. Das lässt sich auch an Namen betrachten, die die Kräfte zum Ausdruck bringen (Hulk, Aquaman, The Flash, Spider Man usw.).

Ich stelle mir nun vor, dass in einer entheroisierten Gesellschaft wie dem Westdeutschland im Kalten Krieg dieses Heldenkonzept überschwappt und dann in die eigenen Geschichtserzählungen synthetisiert wird. Nehmen wir als Beispiel Dungeons and Dragons, als eines der wohl prägendsten Rollenspiel der Geschichte. Das System basiert auf dem Ausbau der Stärke und dem ständigen Kräftemessen. Es geht immer nur darum noch krasser zu werden und so noch stärkere Monster zu besiegen. Das definierte, wie das Hobby betrieben werden sollte. Das schwarze Auge hatte zwar einen demütigeren Ansatz, der mehr in der Welt geerdet war, aber auch hier ging es um die Heldengruppe, die auszog, um finstere Magier und uralte Dämonen zu erschlagen.

Es mag zwar Ausnahmen geben, etwa Fiasko oder auch Cthulhu, aber im Großteil der heute gespielten Rollenspiele ist dieses Heldenkonzept immer noch fest verankert und das heißt, dass Krassheit, die untrennbar damit verknüpft ist, darin verankert ist.

Ich komme daher zu dem Schluss, dass Krassheit, die ich als spielstörend, unkontrollierbar und als eine Deus ex Machina empfinde, mit Selbstverständlichkeit aus der kulturell gewachsenen Art und Weise entspringt, wie wir rollenspielen. Ich weiß nicht, ob zumindest der deutsche Spielraum es verpasst hat, sich eine eigene Spielidentität abseits des Heldenkonzeptes aufzubauen. Es kann schließlich auch sein, weil es schlicht so naheliegend ist, dass wir ein ähnliches Phänomen auch ohne DnD heute hätten beobachten können. Eventuell war die Synthese nur ein Katalysator für eine unvermeidbare Entwicklung. Allerdings beweisen aheroische Systeme immer wieder, dass auch andere Wege für das deutsche Rollenspiel offen gestanden hätten. Ich glaube nur nicht, aufgrund der Etabliertheit der Heldensysteme, dass sie eine langfristige Alternative bilden und so von der Idee der Krassheit ablenken können. Krassheit, so anstrengend sie durch ihre Konsequenzen wie Powergaming oder als Ersatz für Rollenspiel auch sein kann, wird das Hobby, schon allein strukturell bedingt, also noch lange begleiten.

5 Gedanken zu „Über die kulturelle Synthese von Krassheit

  1. Arne Babenhauserheide

    Krassheit liefert auch die Möglichkeit, einfache Wege zu gehen. Ohne Umschweife zum Ziel. Einfach mal stark zu sein und sich nicht vor allen ducken zu müssen.

    Gerade Kinder wünschen sich, stark zu sein, weil es sie schützt. Sie sind schließlich in der Realität massiv von vielen anderen abhängig. Und das schränkt sie real ein.

    Und wir hatten hier ja auch schon lange vorher Sagen von Siegfried. Und keltische Heldensagen haben auch viel Krassheit. Nicht zu vergessen, die ganzen griechischen Götter (die auch verbreitete Hauptpersonen von Geschichten waren).

    Deswegen wäre eher meine Frage, welche Art von Krassheit stört. Meine Vermutung wäre, dass sie stört, wenn sie so dominierend ist, dass andere Facetten des Settings verloren gehen.

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  2. Andreas (RPGnosis)

    Sehe ich wie Arne – ich finde „krasse“ SCs nicht per se ein Problem, in vielen Spielarten sind sie schlicht Bedingung für die Art von (Helden)geschichten, die darin erlebt werden können sollen.
    Störend wird es dann, wenn einzelne „Überkrasse“ das Erlebnis der Mitspielenden einschränken und/oder ihre „Überlegenheit“ zu infantilem „Rumrandalieren“ in der Spielwelt nutzen, welches innerweltlich durch die gespielte Figur nicht sinnvoll begründet werden kann. Aus der Phase sollte man irgendwann rauswachsen.
    Gerade die Verantwortung, die mit Macht kommt, finde ich dagegen ein reizvolles rollenspielerisches Thema, das in meinen Augen zu selten ausgeschöpft wird. Dafür braucht es nicht unbedingt lauter dunkelgraue Konstellationen wie etwa in der Welt Sapkowksis, vielmehr stellen meiner Erfahrung nach gerade vermeintlich „bodenständige“ moralische Dilemmata auch für die SpielerInnen mächtiger Charaktere echte Herausforderungen dar.
    In meinen Augen sind das aber (wie generell das oft zu unrecht gescholtene Powergaming) Probleme, die in einer Session Zero bzw. generell mit offener Kommunikation in der Spielrunde angegangen und gelöst werden können (sollten).

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    1. Ariatros Artikelautor

      Erst einmal vielen Dank für eure beiden Antworten.
      Ich finde es immer sehr spannend, andere Perspektive zu hören. Ich habe tatsächlich Powergaming oder besagte Krassheit immer nur als einschränkend erfahren. Die Idee der Verantwortung, die ich sehr interessant finde, konnte ich darin nie entdecken. Aber es stimmt schon, liegt der Fokus auf den Folgen von Macht, lassen sich da reizvolle Spielszenen schaffen.
      Den Punkt mit den Kindern finde ich auch wichtig. Wenn ich Beiträge schreibe, dann aus meiner Sicht, also Mittdreißiger der mit seiner Altersgruppe spielt. Meine beste Freundin ist Schulsozialarbeiterin und hat jetzt mit Grundschulkindern das PnP „So nicht, Schurke“ begonnen. Da zeigte sich, dass Kinder alle auf Stärke geskilled haben und genau diesen Aspekt der Überlegenheit bespielen wollte. Deswegen nochmals danke für den Hinweis in diese Richtung.

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      1. Andreas (RPGnosis)

        Bei Kindern ist es natürlich nochmal etwas anders – man sieht ab Beispiel aber klar, welche Bedürfnisse der Kinder im normalen Leben wohl nicht erfüllt werden. Solches „Kompensationsspiel“ ist sicher nicht ungesund, aber wenn man selbst etwas mehr davon haben und den Kindern „über die Schwelle helfen“ will, dann muss man da natürlich ganz anders auf sie einwirken – und z.B. ihre Bedürfnisse nach Kontrolle und Selbstwerterhöhung von vornherein anders befriedigen (z.B. im sozialen Kontext, ihre Rolle als Auserwählte etc.) als durch möglichst viele gewonnene Kämpfe.

        Bei Erwachsenen ist es mAn unabdingbar, dass man als SL in einer Session Zero ungefähr die Losung seines Spiels ausgibt. Also „Sandbox, macht was ihr wollt“ oder „Straffe Kampagne zum Thema X und in Setting Y, dafür möchte ich folgende Charakterkonzepte…“ und so weiter. Daran haben sich die Spieler zu orientieren, und wer das nicht macht, sollte zu einem Gespräch beiseitegenommen werden, wie er vielleicht das Erlebnis für alle verbessern könnte.
        Aber wie alles: es klappt am besten (eigentlich ausschließlich) durch Kooperation. Wenn die SpielerInnen keinen Bock auf das Kampagnenkonzept der SL haben, müssen sie es halt rechtzeitig sagen. Alles andere ist ein dick move.

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        1. Ariatros Artikelautor

          Ich bin kein Pädagoge und kann daher leider keine hilfreichen Aussagen darüber geben, was für Kinder gut oder schlecht ist. Wir sehen auch bei Erwachsenen Spieler, dass es einige unter ihnen gibt, die ihre Machtfanatasie ausleben wollen. Vielleicht gibt es in den psychologischen Prozess Parallelen zu den Kindern. Vielleicht wollen sie in einer Zeit, in der Superheldenfilme prägnant in der Populärkultur sind, diese auch nur nachempfinden. Da besitze ich nicht die Expertise, um das analysieren zu können. In einer zweiten Runde hatte meine beste Freundin eine eher gemischte Gruppe. Ein Kind fand Roboter cool und hatte dann den ersten Intelligenzbasierten Charakter erschaffen. In der ersten Gruppe, in der alle Stärke-Charaktere genommen haben, könnte die Entscheidung eventuell auch durch kollektiven Einfluss beeinträchtigt wurden sein. Also wenn ich die Speisekarte nicht kenne, neige ich dazu, dass zu bestellen, was sich die anderen bestellen. Ich bin auf jeden Fall sehr gespannt, wie es mit den Gruppen weitergeht und welche Geschichten die Kinder schreiben.

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