Es ist lange her, seitdem ich zuletzt ein konstruktivistisches Rollenspiel ausprobieren durfte. Umso neugieriger war ich, ein in ein Kartenspiel gebanntes PnP dieser Machart im Laden zu finden. Es warb damit, dass nicht verbal kommuniziert wird. Damit hatte es mich. Ich will in diesem Beitrag deshalb von einem sehr intensiven Rollenspielerlebnis berichten.
Was ist ein konstruktivistisches Rollenspiel?
Im Grunde lässt es sich auf die Formel, dass alle Spieler Spielleitung sind, herunterbrechen. Jeder besitzt genauso viel Gestaltungsfreiheiten, wie sie eine reguläre Spielleitung besitzen würde. Ziel eines jeden Spielers ist es, für alle gemeinsam ein tolles Erlebnis zu schaffen. Das kann tatsächlich großartig werden, wenn die Leute am Tisch sich disziplinieren, für einander Szenen vorbereiten, den anderen nicht in den Erzählfaden reingrätschen und spannende Ideen einweben. Es kann aber auch genau das Gegenteil passieren. Meine erste konstruktivistische Rollenspielrunde war mit zwei sogenannten PnP-„Veteranen“, die mich als Person überhaupt nicht ernst genommen hatten und sich in jeder Szene, obwohl ihre Charaktere gar nicht vor Ort waren, in den Mittelpunkt schieben wollten. Das war eine meiner schlimmsten PnP-Erfahrungen, weil dann sich der ganze Zauber, der konstruktivistischen Rollenspiele zugrunde liegt, in einen zähen, vor Machtfantasien übersprudelnden Alptraum verwandelt hatte. Deswegen will ich hier schon mal mahnen, dass die Gruppe, mit der man dieses Abenteuer beginnt, handverlesen sein sollte.
Wie wird Alice is missing gespielt?
Die Teenagerin Alice ist verschwunden und wir als ihre Freunde wollen sie finden. Das ist die einfache Prämisse. Anders als andere konstruktivistische Rollenspiele nutzt Alice is missing keinerlei Charakterwerte. Der Charakterbau ist eine Auswahl zweier Karten. Die erste Karte gibt unseren Hintergrund sowie ein Geheimnis vor, während die zweite unsere Motivation Alice zu finden sowie die Beziehung zu den anderen Charakteren festlegt. Falls es doch zu Entscheidungssituationen kommt (man kann im Spiel verletzt oder getötet werden), wird schlicht eine Münze geworfen.
Kein Charakter darf sich an einem Ort mit einem anderen befinden. Alle Spieler kommunizieren via Messenger (wir haben Discord genutzt). Dort wird der Name des Spielers in den Namen des Charakters geändert und dann wird der 90-minütige Countdown gestartet. Bis hierhin erinnert es stark an ein Escape-Room-Spiel.
Der Kniff ist nun, dass jedem Spieler mit einer bestimmten Minutenzahl ein Hinweis ausgeteilt wurden ist. Dieser kennt der Spieler selbst nicht, bis die entsprechende Minute geschlagen hat. Hinweise sind oft mit Verdächtigen, neuen Suchorten oder drastischen Ereignissen (Stromausfall: geh zum Lichtschalter und schalte das Licht aus) verbunden. Dadurch gelingt es dem Spiel, alle Spieler relevant und im Spiel zu halten.
In der Zeit zwischen den Hinweisen wird Charakterspiel betrieben und spekuliert. Das ist die Phase, um den eigenen Erzählpfaden mit den Ideen der anderen weiterzuentwickeln. Zunächst kommt aller 10 Minuten ein neuer Hinweis in die Runde, was Zeit für die Vorstellung der Charaktere und ein Kennenlernen lässt. Das beschleunigt sich später zu 5 Minuten, was der Spannungskurve und dem Gefühl sich überschlagener Ereignisse gut tut. Falls jemand mal keine Idee hat, wie er weitererzählen soll, kann er auch an Orten suchen. Dann erhält er eine Karte mit sehr vage Beschreibungen von sehr verdächtigen Dingen, die einen immensen Einfluss auf die Erzählung haben können.
Was ist das Besondere an Alice is missing?
Sowohl der melancholische Soundtrack, als auch die Tatsache, dass man als Spieler immer alleine ist, Hinweise entdeckt, sie aber nicht einfach aussprechen darf, erzeugt eine aufgeregte Stille. Jedes Tippen wird erwartungsvoll, bei dramatischen Ereignissen füllt sich die Luft mit unheilvoller Energie, bevor jemand überhaupt irgendwas versendet hat. Man verfolgt gebannt den Chat, jedes Wort könnte das Letzte sein. Gleichzeitig erzeugt der Chat aber auch eine Denkhilfe, weil man nicht sofort antworten muss, sondern seine Erzählung in den Moment des Tippens im Kopf reifen lassen kann. Oft resultiert aus ihm ein Gefühl der Einsamkeit. Denn wenn man ein wichtiges Puzzelstück gefunden hat, kann man es aber noch lange nicht allen mitteilen, weil man erstmal die Szene überleben muss, in der man es gefunden hat. Das endet in angefangenen und abgerissenen Sätzen, das ständige im Unklaren sein, was gerade bei einem Spieler passiert und das Helfen wollen, aber einfach nicht können, weil man immer an einem anderen Ort ist, Das alles erschuf bei uns eine dichte Atmosphäre aus Hilflosigkeit und gleichzeitig trotzdem Entschlossenheit, unsere Freundin retten zu wollen.
Im Fazit hat mir dieses wirklich kleine und feine Kartenspiel die Freude und meine Neugierde an konstruktivistischen Rollenspielen zurückgebracht. Ich kann es euch daher nur empfehlen. Ich meine auch, dass das Spiel mittlerweile komplett online erhältlich ist (sind wirklich auch nur ein paar Karten). Es gibt also so gut wie keine Hürde, dieses Abenteuer nachzuholen, was zumindest mir noch lange im Gedächtnis bleiben wird.